Neufriedeland

Neufriedeland

Eine Geschichte über das „Kriegen“ und über wahren Frieden

Zu sehen ist ein junger Mann, der in ein fernes Land schaut / Neufriedeland

Neufriedeland war ein kleines Dorf am Rande unseres Mittelpunkts. Viele Einwohner hatte es nicht. Nur eine Handvoll von Menschen lebten dort.

Da ist zum Beispiel der Großgrundbesitzer Siegfried. Er lebte mit seiner Familie nicht nur in einer großen Villa, sondern er verpachtete auch ein paar Häuser. In einem wohnte der Großhändler Friedhelm. Oben hatte er ein riesiges Appartement und unten war sein großes Geschäft zu finden. Hier versorgte er die Leute aus Neufriedeland und dem Umland mit allem, was sie zum Leben brauchten. Auch der Großbauer Friedrich belieferte Friedhelm mit dem feinsten Obst und Gemüse. Vor langer Zeit hatten sie einen guten Preis miteinander ausgehandelt, aber im Laufe der Jahre fühlte sich einer der beiden immer übervorteilt.

Ganz grün waren sich auch der Großvater Friedemann und die Großmutter Elfriede nicht. Seiner Meinung nach versalzte sie jedesmal seine Lieblingssuppe. Und das Frühstücksei war auch stets zu hart. Das schmeckte ihm natürlich nicht. Außerdem kriegten sie sich meistens mit den Eltern von Friederike in die Wolle, weil ihre Enkeltochter öfter bei ihnen übernachten sollte, als sie durfte.

Neufriedeland war ein friedliches Dörfchen. Und dennoch gab es ihn auch dort: den täglichen Kleinkrieg wegen Kleinkram, der den Einwohnern das Leben ziemlich schwer machte. Nicht nur Friedrich und Siegfried träumten schon öfters davon, heimlich, still und leise ihr Zuhause zu verlassen und in eine Großstadt zu ziehen. Das einzige, was sie hielt, war die große Verheißung, die auf Neufriedeland lag. Denn eines Tages sollte der langersehnte Friede-Fürst ausgerechnet hierher kommen und etwas Neues schaffen. Wie oft stellten sich die Leute in Neufriedeland schon vor, dass jener ein großes Schloss bei ihnen errichten würde, sodass sie großspurig in den Nachbardörfern damit angeben könnten, zumindest in den Nachrichten einmal groß herauskämen und endlich etwas Großartiges in ihrem kleinen Ort passierte. 

Die Jahre gingen ins Land — in Neufriedeland, ohne dass sich viel veränderte. Nur ein unscheinbarer Wandersmann hatte es inzwischen hierher verschlagen. Es war ein Mensch, der irgendwie nicht in das Bild der Bewohner passte. Denn er erkundigte sich bei Siegfried nicht, ob er ein Haus mieten konnte. Am äußersten Rand des Dorfes hatte er sein Zelt aufgeschlagen. Auch kaufte er selten bei Friedhelm groß ein; er lebte von dem, was ihm die Natur bot. Seine Kleidung war verschlissen. Und trotzdem schien der Fremde mit sich im Reinen zu sein. Er wirkte — mit den wenigen Habseligkeiten, die er bei sich hatte — zufrieden zu sein. Und das verstanden die Einwohner von Neufriedeland nicht! Da sie ihm aus dem Weg gingen, wussten sie nicht, wie er hieß. Aber sie hielten ihn einfach nur für einen  „Störenfried“. 

Am ersten Tag eines neuen Jahres gedachten die Menschen in Neufriedeland stets der alten Verheißung, die auf dem Dorf lag. In ihren Häusern feierten sie das groß. Auch bei Friedemann und Elfriede war die ganze Familie in jenem Jahr eingekehrt: die Geschwister, die Tochter, der Schwiegersohn. Und natürlich durfte auch Friederike nicht fehlen. Doch — diesmal  war nicht die große Verheißung Thema Nummer eins bei ihnen, sondern der „Störenfried“. Während sich die Großen mächtig über ihn aufregten, war die kleine Friederike einfach nur gelangweilt.

Irgendwann nahm sie niemand mehr richtig war. Sie zog sich an und ging nach draußen. Sanfte Regentropfen tanzten vom Himmel herab. Und zu ihrer Freude führte sie der leichte Rückenwind zum Rande des Dorfes — dorthin, wo sich der Wandersmann gerade einen Fisch gefangen hatte und ihn nun am offenen Feuer zubereitete. Ein wenig verschüchtert näherte sie sich ihm.

„Du magst doch Fisch, Friederike!“, meinte der Fremde bestimmt. „Willst du mitessen?“, fragte er sie mit warmherziger Stimme.

„W-woher kennst du …, w-woher weißt du?“, stotterte die Kleine verblüfft. 

„Ach, weißt du …“, erklärte der Wandersmann, „ich weiß noch viel mehr! In Neufriedeland reden die Menschen viel vom wahren Frieden, aber sie kennen ihn nicht …“

„Was ist denn wahrer Friede?“, wollte Friederike beim Essen wissen.

„Sieh dich um: Ist die Welt nicht reich? Sie bietet genug für uns alle … Doch ein jeder lebt hier, als komme er zu kurz. Deshalb baut ihr große Villen, fahrt große Autos und wartet auf den Friede-Fürst, der euch groß machen soll … Aber Friede beginnt im Kleinen — da, wo wir alles aus einem anderen Blickwinkel betrachten.“

Friederike stand auf, machte einen Handstand und sagte kopfüber: „So etwa …?“

Ihr Gegenüber schmunzelte. „So ähnlich …“, erwiderte es. „Eure Herzen dürfen sich umdrehen, weil der wahre Friede in ihnen beginnt!“

„Wie meinst du das?“

„Weißt du: Wo wir anfangen, uns bewusst zu machen, wie viel Gutes wir schon längst haben, da werden wir dankbar. Und Dankbarkeit macht zufrieden und glücklich. Frieden entsteht im Loslassen — in dem Vertrauen, dass uns der Geber des Lebens immer genug zukommen lässt … zu jeder Zeit und Stunde. Er beschenkt uns mit dem, was wir tatsächlich brauchen. Jeder Krieg entsteht leider, weil ihr immer nur noch mehr wollt, als euch zusteht — im ‚Kriegen‘ von dem, was ihr groß und weit und ‚mehr’ nennt!“

„Woher weißt du das alles?“, fragte Friederike ganz erstaunt.

„Ich bin der, den ihr in Neufriedeland schon so lange erwartet. Der Schöpfer des Universums hat mich zu euch geschickt … Die Erwachsenen nennen mich ‚Störenfried‘. Doch — ich bin es: der Friede-Fürst!“

„Was? Wirklich? Ich habe bis jetzt eine ganz andere Vorstellung von dir gekriegt!“, gab die Kleine überrascht zu. „Du musst mitkommen und meinen Großeltern, der Mama und dem Papa mehr davon erzählen — und Friedrich, Siegfried, Friedhelm und all den anderen natürlich auch …“, meinte sie aufgeregt.  „Du musst etwas verändern!“

Der Friede-Fürst schüttelte den Kopf. „Das geht nicht!“, erklärte er Friederike. „Eine lange Zeit weile ich — als euer ‚Störenfried’ — schon unter euch, aber ich kann allen Menschen in Neufriedeland nur der Friede-Fürst sein, wenn sie mich in ihr Haus, in ihr Leben, in ihr Herz einladen und friedvoll und befriedet mit mir zusammenleben wollen.“

Friederike lief bald darauf zu ihren Lieben und berichtete ihnen alles. Ob die Großen sich nun bewegen ließen und dem Frieden, dem Friede-Fürst, trauten, zeigte sich klein um klein im alten Neufriedeland …