Reiche Wunder-Land

Reiche Wunder-Land

Wie aus Wunden Wunder werden

In einem Buch ist eine Tür zu einer anderen Welt / Gedichte über Bibeltexte / Reiche Wunder-Land

König Wundervoll und Königin Wunderbar regierten in dem Reiche Wunder-Land schon viele Jahre. Und sie machten ihre Sache wirklich gut. Denn ihren Untertanen fehlte es an nichts. Obwohl sie dem Königspaar Abgaben leisten mussten, hatten sie selbst genug, um sich wunderschöne Häuser zu bauen und wunderhübsche Kleider zu tragen. Aber trotzdem waren die Menschen in Wunder-Land ein wenig wunderlich. Anstatt sich über das zu freuen, was sie besaßen, verglichen sie einander. Dennoch gaben die Menschen in Wunderland vor, dass sie glücklich waren, ihre Mitmenschen liebten und in keinem anderen Wunderreich leben wollten. Denn an dem Ort, wo sie wohnten, schien alles so perfekt, so vollkommen, so wunderherrlich zu sein.

Eines Tages wurde dem König Wundervoll und der Königin Wunderbar im Reiche Wunder-Land ein Kind geboren. Es war ein echter Wunderknabe namens Wundersam… Doch – im Gegensatz zu allen anderen Mitbewohnern war das Wunderkind nicht so wunderschön wie sie. Es hatte nämlich ganz viele schwarze Wunderpunkte im Gesicht und an seinem ganzen Körper. Draußen huldigten die Untertanen ihrem Königspaar natürlich zu. Aber in ihren Häusern lachten sie über den Wunderknaben. Für sie stand fest, dass ein Kind mit schwarzen Wunderpunkten nicht ins Wunderland passte. Da waren sie sich – ausnahmsweise – einmal alle einig.

Der Wunderknabe wuchs heran zu einem Wundermann. Aber Wundersam fühlte sich klein. Und er litt unter seinem Aussehen. Denn die Wunderpunkte waren im Laufe der Jahre auch größer geworden. Obwohl er das Königskind war, spürte er, dass er von seinem Volk verachtet wurde. Deshalb beschloss er eines Nachts, heimlich, still und leise Wunderland zu verlassen. Er stieg auf sein Pferd und ritt davon … durch dunkle Wälder, tiefe Schluchten, weite Felder – bis zur Grenze des Landes. 

Dort sah er schon von weitem eine kleine Hütte, in der noch Licht brannte. Da er und sein Pferd erschöpft von der langen Reise waren, überlegte Wundersam, ob er dort anklopfen sollte, um einkehren zu dürfen. Doch – welcher Wundermensch wollte mit einem Wundermann etwas zu tun haben, der von schwarzen Wunderpunkten gezeichnet war?

Noch bevor er die Hütte erreicht hatte, öffnete sich die knorrige Tür. Ein weiser Wundergreis begrüßte das Königskind freundlich und bat ihn, bei ihm einzukehren. „Sei willkommen, Jüngling! Ich heiße Wunder-Rat!“, stellte er sich Wundersam vor. „Mir ist wohlbekannt, dass du auf der Flucht bist – vor den Blicken der Leute und vor dir selbst!“

Wundersam empfand die Art des Wunder-Rats wunderlich. Denn dieser hatte bereits den Tisch für sie beide gedeckt und servierte nun die feinsten Köstlichkeiten. „Ich habe gewusst, dass du hier vorbeikommen wirst und schon einmal für uns vorgesorgt!“, machte er ihm klar. „Nun stärke dich, Königskind…“ 

Nachdem die Teller leer und die Mägen der beiden gefüllt waren, sprach Wunder-Rat: „Wundersam, du hast den falschen Weg eingeschlagen! Du bist geboren, um einst Wunderland zu regieren. Doch – du musst lernen, dich selbst zu führen, bevor du ein ganzes Volk führen kannst.“

„Wie meinst du das?“, wunderte sich Wundersam.

„Du leidest darunter, dass die Menschen im Reiche Wunder-Land dich mit deinen Wunderpunkten nicht ernst nehmen – dabei ist dir noch gar nicht in den Sinn gekommen, dass jeder von ihnen solche hat … vielleicht nicht so offensichtlich wie du. Doch jeder lebt mit Kratzern, Rissen, Flecken.“

„Bist du dir sicher?“, fragte Wundersam verwundert nach. „Hast du denn auch welche?“

Wunder-Rat schwieg. Dann zog er ganz langsam die Ärmel seines weißen Gewandes hoch und zeigte seinem Gegenüber die beiden Narben an seinen Handgelenken. „Dafür verbürge ich mich sogar. Ich habe alles dafür getan, damit die Menschen offen, offenherzig mit ihren wunden Punkten, mit den Wunderpunkten umgehen können. Aber weil ich bei ihnen kein Gehör finde, hast du einen riesengroßen Auftrag. Du darfst zu deinen Schönheitsfehlern stehen und deinem künftigen Volk vorleben, dass eine große Schwäche eine große Stärke sein kann!“, erklärte Wunder-Rat dem baldigen König von Wunderland. „Reite zurück auf dein Schloss und bereite dich auf die ehrenwerte Aufgabe vor.“

Wundersam nahm Abschied von Wunder-Rat. Auf dem schnellsten Weg galoppierte er zu seinem Vater Wundervoll und seiner Mutter Wunderbar ins Reiche Wunder-Land zurück. Jetzt wusste er, dass seine Wunderpunkte ein Schatz waren, durch die er noch vielen Menschen etwas zeigen durfte… Seitdem er nämlich bei Wunder-Rat gewesen war, wusste er, was er tun musste. Er veränderte seine Haltung zu seinen Wunderpunkten. Er musste sich dafür nicht mehr schämen; er stand dazu. Und genau dadurch änderten die Menschen in Wunderland ihr Verhalten dem Königssohn gegenüber. Sie bewunderten ihn.

Eines Tages war es dann soweit: Als König Wundervoll und Königin Wunderbar sehr alt geworden waren, übernahm Königssohn Wundersam die Herrschaft im Reiche Wunder-Land. Er lud seine Untertanen in den wunderschönen Palast ein. Jeder, der fortan zugeben konnte, dass er Wunderpunkte mit sich trug, wurde in den Adelsstand erhoben. Die Menschen kamen vorsichtig und mit Ehrfurcht zum neuen König Wundersam und zeigten ihm mit ein wenig Scham ihre Wunderflecken, ihre Wunderrisse, ihre Wundernarben. An einer großen Tafel mit köstlichen Dingen begannen sie sogar, miteinander darüber zu reden. Sie rückten wieder zusammen und wurden wahrhaftig glücklich.

König Wundersam regierte im Reiche Wunder-Land noch viele, viele Jahre. Und – wissen Sie, mit wem er es gemeinsam tat? Der alte, weise Wunder-Rat stand ihm mit Rat und Tat stets zur Seite…

Hier ist die Geschichte "Reiche Wunder-Land" - gelesen von Heiko Bräuning